Schleierlinge gehen ihren eigenen Weg

Forschungsteam entdeckt bislang unbekannten Stoffwechselweg in Pilzen

| Von Ute Schönfelder

Ein Pilz der Gattung <em>Cortinarius</em> umgeben von Grashalmen
Ein Schleierling der Art Cortinarius odorifer (deutsch: Anis-Klumpfuß). Quelle: Dirk Hoffmeister

Ein neues, bislang unbekanntes Beispiel konvergenter Evolution hat ein Forschungsteam aus dem Institut für Pharmazie der Universität Jena und des Leibniz-HKI gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen der Universität Freiburg/Breisgau in der Pilzgattung der Schleierlinge aufgespürt. Die Forschenden fanden heraus, dass die Pilze bestimmte Naturstoffe, die Anthrachinone, produzieren und dafür einen ganz eigenen Stoffwechselweg entwickelt haben. Seine Ergebnisse legt das Team um den Mykologen Dirk Hoffmeister in der aktuellen internationalen Ausgabe des renommierten Fachmagazins Angewandte Chemie vor.

Was Vorteile bringt, setzt sich langfristig durch. So lässt sich – stark vereinfacht – das Prinzip der Evolution formulieren, nach dem sich Organismen ihrer Umgebung bestmöglich anpassen. Und dabei führen Anpassungsprozesse in unterschiedlichen Organismengruppen oft zu ganz ähnlichen oder identischen Ergebnissen, wenn es die Umgebung erfordert. Diese „konvergente Evolution“ hat beispielsweise die gleichen stromlinienförmigen Körper von Fischen und Meeressäugern, z. B. Delphinen, hervorgebracht. Sie lässt sich aber auch an vielen Beispielen auf molekularer oder Stoffwechselebene finden.

Schleierlinge produzieren eine Vielzahl von Naturstoffen

„Die Schleierlinge sind eine der artenreichsten Gattungen der Pilze überhaupt“, sagt Dirk Hoffmeister. Etwa 2.000 Arten gibt es weltweit, allein in Mitteleuropa kommen rund 500 Arten vor. „Und auch hier bei uns in Mitteldeutschland können wir im Herbst zahlreiche Schleierlingsarten mit ihren farbenprächtigen Fruchtkörpern finden,“ so Hoffmeister weiter. Für Pilzsammler seien die Schleierlinge allerdings weniger interessant, denn die meisten Arten sind ungenießbar, etliche giftig, einige tödlich.

Und das hat einen Grund: „Schleierlinge sind begnadete Chemiker“, bringt es Pilz-Experte Hoffmeister auf den Punkt. Sie produzieren eine Vielzahl an Naturstoffen, darunter auch die sogenannten Anthrachinone. „Das sind intensiv farbige und oftmals toxische Verbindungen, die von den Pilzen in großer Diversität hergestellt werden“, so Hoffmeister weiter.

Im Vordergrund ein Kolben mit unten roter, oben gelber Flüssigkeit, im Hintergrund verschwommen ein Mann mit Schutzbrille
Doktorand Nikolai Löhr ist Erstautor der Studie. Er zeigt Anthrachinon-Verbindungen - die ihre Farbe und Löslichkeit verändern - je nach pH-Wert der Umgebung. Oben: unter sauren Bedingungen in organischer Lösung. Unten: in alkalischer - wässriger Lösung. Quelle: Jens Meyer / Uni Jena

Im „Anis-Klumpfuß“ sechs neue Enzym-Gene entdeckt

Auch Bakterien, Pflanzen und Schimmelpilze können Anthrachinone herstellen und haben dafür unterschiedliche Stoffwechselwege entwickelt. Dirk Hoffmeister und sein Team haben in der vorliegenden Arbeit untersucht, wie nun Schleierlinge der Art Cortinarius odorifer (deutsch: Anis-Klumpfuß) Anthrachinone produzieren. Dafür haben sie im Genom des Pilzes nach Genen für Enzyme gesucht, die andere Pilze zur Produktion der chemischen Vorläufer dieser Substanzen nutzen. „Zu unserer Überraschung konnten wir die Gene, nach denen wir gesucht haben, jedoch nicht finden“, sagt Dirk Hoffmeister. Stattdessen entdeckten die Forschenden Gene für bislang unbekannte Enzyme, die ebenfalls die Synthese der Anthrachinon-Vorläufer katalysieren können.

Dass sie damit tatsächlich einen neuen Stoffwechselweg entdeckt haben, konnten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zeigen, indem sie die neu entdeckten Gene aus dem Schleierling in eine Schimmelpilzart übertrugen. Mit den neuen Genen zeigte sich in den Schimmelpilzen die gleiche Enzymaktivität wie in den Schleierlingen, und folgerichtig wurden die Schimmelpilze farbig.

Warum sich in der Evolution der Schleierlinge ein eigener Stoffwechselweg entwickelt hat, das bleibe noch zu beantworten. „Es muss einen großen Druck in der Entwicklung des Lebens gegeben haben, wenn verschiedenste Organismengruppen völlig unabhängig voneinander und auf unterschiedlichen Wegen gelernt haben, Anthrachinone herzustellen“, so Hoffmeister.

Originalpublikation

Löhr NA, Eisen F, Thiele W, Platz L, Motter J, Hüttel W, Gressler M, Müller M, Hoffmeister D (2022) Unprecedented Mushroom Polyketide Synthases Produce the Universal Anthraquinone Precursor. Angew Chem In Ed doi: 10.1002/anie.202116142

Mitarbeiter*innen

Markus Greßler
Dirk Hoffmeister
Nikolai Löhr
Jonas Motter

Pressekontakt

Friederike Gawlik
Charlotte Fuchs

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